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LEAN STARTUP: MYMIGROS – VOM KUNDENZENTRIERTEN PROTOTYPEN ZUR DIGITALEN MIGROS-FILIALE

Knapp drei Jahre ist es her, als in Bern nach kurzer konzeptioneller Vorphase im August 2018 «myMigros», der erste hundertprozentig personalisierte Online-Supermarkt der Schweiz entstand. Das damals als «Closed User Group» gestartete Pilotprojekt der Migros Genossenschaft Aare war zudem das erste aus der internen Startup-Schmiede «New Business», die es sich zum Ziel gemacht hat, neue, zukunftsfähige Geschäftsmodelle und Märkte ausfindig zu machen und zu besetzen. Zeit genug, das heutige myMigros und seine Weiterentwicklung genauer anzuschauen.

Think Big, Start Small, Learn Fast – von der Ideenvalidierung zur Skalierung

Flink, Glovo, Gorillas, Jiffy, Picnic, Stash, Weezy, u.v.m. Die Liste an Startups ist lang, die gerade versuchen, einen Happen am – nicht nur durch Corona – stetig wachsenden E-Food Kuchen abzubekommen. Gefühlt hat sich, befeuert durch reichen Investoren-Geldregen, eine neue Lazyness bei Ideen und Konzepten breit gemacht – Konzept-Klone und Copycats schiessen wie Pilze aus dem Boden. Und in den wenigsten Fällen findet eine Evaluierung und Anpassung an landesspezifische Gegebenheiten statt. 

Ist myMigros nun ebenfalls einfach ein weiterer Online-Lebensmittel-Lieferdienst, um den heimischen Kühlschrank zu füllen? Aus meiner Sicht definitiv nein! Für mich stellt myMigros als Vorzeigeprojekt der «Wachstumsfabrik» der Migros Aare ein Paradebeispiel dar, wie man mit schlanken, interdisziplinären Projektteams neue Ideen und Kundenwünsche entdecken und testen kann. Also eine neue Art, Geschäftsmodelle zu konzipieren, zu denken und anhand von Fakten und Daten weiterzuentwickeln, um zu einem bestmöglichen Kundenerlebnis unter Berücksichtigung der internen Wirtschaftlichkeit zu gelangen. 

«Als erstes identifizieren wir neue, zukunftsfähige Geschäftsmodelle, die zur Migros Aare passen. In einem zweiten Schritt validieren wir diese schnell, kundenzentriert und datengetrieben am Markt, und wenn sie funktionieren, bauen wir sie weiter aus.»

Silvan Forster, Head of New Business, Genossenschaft Migros Aare

Dieses Vorgehen und Funnel-Denken bei der Entwicklung von Geschäftsmodellen, von der systematischen Ideenentwicklung, über die Validierung, Weiterentwicklung bis schliesslich zur breit ausgerollten Skalierung, findet sich auch in der Erfolgsgeschichte von myMigros wieder: Aus dem ursprünglich als Windel-Abo angedachten Geschäftsmodell wurde innerhalb der Evaluationsphase der Geschäftsidee in Interviews mit jungen Familien herausgefunden, dass sich der Bedarf nicht nur auf «Bulky Products» oder baby-nahe Kategorien konzentrierte, sondern das Bedürfnis ebenfalls Lebensmittel und sogar den gesamten Wocheneinkauf mit einschliesst. Nach kurzer konzeptioneller Vorphase startete im August 2018 myMigros unter dem Radar mit einer Closed User Group von 200 handverlesenen Cumulus-Kunden in der Hauptstadt Bern im MVP. Ziel war es jedoch nicht, noch ein weiterer Online-Supermarkt ohne klar abgegrenztes Profil zu sein, sondern sich deutlich wahrnehmbar mit weiteren Mehrwerten für den Kunden von bestehenden Angeboten zu differenzieren: Der Hauptmehrwert heisst Personalisierung; basierend auf den Omnichannel-Supermarkt-Einkäufen der Kunden, die am Cumulus Kundenbindungsprogramm der Migros teilnehmen, egal ob diese online oder offline kaufen. Da bei Supermarktkunden von Woche zu Woche immer in etwa zu 85 Prozent die gleichen Artikel im Warenkorb landen, macht es Sinn, diese wie bei myMigros personalisiert so darzustellen, dass der Kunde seinen Einkauf schneller durchführen kann. Im September 2019 wurde dann myMigros als Meilenstein für alle Kundinnen und Kunden in der Stadt Bern und der umliegenden Agglomeration geöffnet.

myMigros Screenshot Personalisierung

Personalisiertes Einkaufserlebnis bei myMigros – meine persönlichen Produkte basierend auf meinen Omnichannel-Einkäufen (Quelle: myMigros)

Die Value Proposition: RegionSkalierung auf dem Vormarsch – myMigros auf Expansions- & Wachstumskursale Produkte und schnelle Lieferung im Fokus

Wie fast alle neueren, digital basierten Geschäftsmodelle baut auch myMigros bei der Skalierung auf eine exponentielle Wachstumsannahme. Deren Basis bilden schnelle, kundenzentrierte Lernzyklen, gepaart mit radikalem Denken und Handeln und auch dem Mut und der Bereitschaft, sich im Zweifelsfall allenfalls selbst in Teilen zu kannibalisieren, bevor es ein Wettbewerber tut – diese anfängliche Befürchtung ist jedoch erfreulicherweise nicht in grossen Stil eingetreten und deren Effekte für die Migros vernachlässigbar. Neue Kunden werden auch ausserhalb des Migros-Universums gewonnen und bestehende Kunden können im Share-of-Wallet entwickelt werden.

Dass die Annahmen von myMigros hinsichtlich exponentiellem Wachstum sich zu erfüllen scheinen, zeigt sich ebenfalls an den Umsatzzahlen: Im Quartalsvergleich von Q1/2020 zu Q1/2021 konnte der Umsatz des Startups in nur 12 Monaten um rund 1’330 Prozent, von 0.5 Mio. Schweizer Franken auf über 7 Mio. Schweizer Franken gesteigert werden. Eine beachtliche Leistung! So kann myMigros inzwischen auf 13’000 Bestandskunden blicken, die sich pro Monat für mehr als 21’000 Orders mit einem durchschnittlichen Warenkorb von rund CHF 130 verantwortlich zeigen; Tendenz weiter steigend. 

Am stärksten von aussen wahrnehmbar ist die erfolgreiche Skalierung bei myMigros auf der Expansionslandkarte: Neben Bern und angrenzender Agglomeration erfolgen Lieferungen nun auch in die Städte und Agglomerationsgebiete von Aarau, Baden, Bern, Biel, Grenchen, Oftringen, Olten, Solothurn, Spreitenbach, Thun, Wettingen, Zofingen und neu Zürich. (vgl. virtuelle Standortkarte von myMigros). Die Regionen Wohlen / AG, Lyss-Aarberg, Langenthal-Herzogenbuchsee sowie Brugg im Genossen­schaftsgebiet der Migros Aare stehen 2021 ebenfalls noch auf dem Rolloutplan. 

Liefergebiet myMigros E-Food Schweiz Online-Supermarkt Genossenschaft Migros Aare

Das Liefergebiet von myMigros (Quelle: myMigros)

Ein wirklicher Meilenstein ist dem Team rund um myMigros im April 2021 gelungen: Seit dem 19. April 2021 ist der Service, der ohne Mindestbestellwert ab CHF 80 gratis innerhalb eines einstündigen, frei wählbaren Zeitfensters auch am gleichen Tag liefert, in der Stadt Zürich verfügbar. Und damit erstmals ausserhalb der eigenen Gebietsgrenzen der Genossenschaft Aare im Gebiet der Migros Genossenschaft Zürich. Des weiteren wurde per Dezember 2020 der Betrieb von «Miacar», das als 1:1 Klon des aus den Niederlanden stammenden E-Food Startup Picnic im Stadtgebiet von Bern von zum Migros Genossenschafts Bund (MGB) gehörenden Startup Inkubator Sparrow Ventures gestartet war, eingestellt und in myMigros integriert. 

Fulfillment – Weg von klassischen Hub & Spoke Konzepten

Eine Weiterentwicklung des Konzepts von myMigros zeigt sich ebenfalls im Fulfillment: In der Anfangsphase wurden alle Bestellungen mit einem im Online-Lebensmittelhandel bei Zentrallageransätzen weit verbreiteten «Hub & Spoke» Konzept (wie es auch bei picnic, coop.ch oder migrosonline.ch vorfindbar ist) zentral im MMM Supermarkt Schönbühl vor den Toren Berns, respektive im ersten Ausbauschritt ebenfalls im MMM Supermarkt Bern Marktgasse kommissioniert. Und dann zu einem Hub des Transportpartners notime transportiert, von dem aus die Feinverteilung mit Lastenfahrrädern und Elektrofahrzeugen erfolgte.

Bei der fortwährenden Erschliessung und Erweiterung des Liefergebiets mit Aufschalten von neuen Supermarktfilialen verfolgt das myMigros Team nun ein abgeändertes Konzept: Neben dem bisherigen Fokus auf MMM Filialen – der grösste Filialtyp im Migros Universum mit bis zu rund 35’000 SKUs – werden nun ebenfalls etwas kleinere MM Filialen in die Expansion mit einbezogen, wobei diese nach den Kriterien ‘ausreichend operative Fläche’ im Backstore Bereich sowie ‘Parkplätze für eigene Elektro-Auslieferflotte und Ladeinfrastruktur’ ausgewählt werden. Durch die Platzierung von Auslieferfahrzeugen direkt an der Filiale entfällt somit der Prozessschritt des Transports zum Hub und des Umladens. Zudem wurde die elektrifizierte Flotte, die bereits rund 100 Fahrzeuge umfasst, nicht weiter um kleine Fahrzeuge des Typs Addax oder Goupil erweitert, sondern um Elektrotransporter von Renault, die mehr Zuladung und Reichweiten von bis zu 200km ermöglichen. 

Addax Elektrofahrzeuge myMigros

Bisherige Addax Elektrofahrzeuge für den innerstädtischen Gebrauch in Ballungszentren (Quelle: myMigros)

Und damit eine effizientere Tourenauslastung. Die kleinen Elektrofahrzeuge werden jedoch weiterhin für den innerstädtischen Raum in grösseren Ballungszentren wie Bern und Zürich eingesetzt, da diese den dort vorherrschenden Raumgegebenheiten und kurzen Auslieferdistanzen besser Rechnung tragen. Die Fahrer sind weiterhin beim zur Schweizerischen Post gehörenden Transportpartner Notime im Gesamtarbeitsvertrag (GAV) angestellt. 

Renault Lieferflotte myMigros

Die neuen elektrifizierten E-Renault Auslieferfahrzeuge von myMigros (Quelle: myMigros)

Das bereits seit Beginn des Services eingesetzte Track and Trace via Link, der per SMS nochmals die genaue Ankunftszeit des Lieferfahrzeugs eingrenzt und dann die Position mitverfolgen lässt, wurde auf Grund positiver Resonanz weiterhin beibehalten (vgl. hierzu auch den etailment Beitrag «myMigros – Mit Omnichannel-Daten zum personalisierten Supermarkt»).

Instore Picking-Tech & dezentrale, multiplizierbare Strukturen als Erfolgsfaktor

Fokussieren etliche E-Food Händler wie bspw. Ocado in UK oder Kroger in den USA auf Picking in Darkstores, geht myMigros mit dezentralem Filialpicking einen anderen Weg. Der Fokus liegt hierbei auf Tech-Unterstützung des Pickers mittels der selbst entwickelten Picking App, die auf Event Sourcing und Javascript basiert. In der App ist das jeweilige Store Layout hinterlegt, um die Picker bei jedem Auftrag routenoptimiert durch den Store zu lotsen. Die zu pickenden Produkte werden dabei in der Reihenfolge der Route auf dem Display der Picking Device mit Bild und Menge angezeigt. 

my Migros Picking App auf Smarthone für Storepicking

Benutzeroberfläche der von myMigros selbst entwickelten Picking Lösung (Quelle: myMigros)

Durch Antippen auf dem Touchscreen können weitere Infos zum Produkt angezeigt werden. Zudem geben weitere Icons neben dem Produktbild dem Picker Aufschluss darüber, ob es sich um ein Produkt in Kühlung oder ein ungekühltes Produkt handelt. Wird ein falsches Produkt oder in der falschen Menge mittels Fingerscanner gescannt, meldet dies die App ebenfalls. So können Picking Fehler fast gänzlich ausgeschlossen werden. Des Weiteren ist die Picking-App offlinefähig, sollte es einmal zu Netzwerkproblemen kommen, und besitzt auch ein Multiplayer Feature, um grosse Bestellungen auch mit mehreren Personen zusammen kommissionieren zu können. Die Reihenfolge der zu pickenden Bestellungen wird automatisch an die vier verschiedenen Cutoff Zeiten pro Tag und die Reihenfolge der Auslieferroute angepasst.

Dr. Matthias Schu testet die Picking Smartphone App von myMigros vor Ort
Die myMigros Picking Lösung im Selbsttest (Quelle: myMigros)

In den jeweiligen Filialen sind die Picker in Picking Teams organisiert. Die Picker sind dabei fest angestellte und geschulte Fachkräfte, die durch Spezialisten innerhalb des myMigros Teams ausgebildet und betreut werden. Filialmitarbeitende können jedoch bei Engpässen durch Auslastungsspitzen oder Personalausfälle ebenfalls temporär beim Picking einspringen. Ein System, das sich bewährt hat und zur Identifikation der Filialmitarbeitenden mit dem Omnichannel-Gedanken beiträgt. Insgesamt kann myMigros in den Filialen derzeit auf 160 geschulte Picker zurückgreifen. In Peak-Zeiten, bspw. an Freitagen und Samstagen picken rund 120 davon parallel in mehr als zehn Filialen. 

Durch dezentrales Picking in mehreren Filialen kann myMigros gleich mehrere Vorteile erzielen:

  • Räumliche Nähe zum Liefergebiet und damit Same-Day-Belieferung mit mehreren Cutoff-Zeiten möglich
  • Verteilen von Bestellspitzen auf mehrere Filialen, damit der Kundenstrom in den Filialen nicht beeinträchtigt wird
  • Anbieten von regionalen Produkten, was mit einem Zentrallageransatz nur mit erheblichen Aufwänden möglich ist
  • Echter No-Line Commerce und damit «Deine digitale Migros-Filiale». Damit spielt es keine Rolle mehr, ob die Kundinnen und Kunden im Laden oder online einkaufen wollen. Das Kundenerlebnis ist so oder so einzigartig, egal ob online oder stationär.

Fazit

Mit myMigros und der erfolgten Weiterentwicklung zur digitalen Migros Filiale verfolgt die Genossenschaft Migros Aare einen interessanten, zukunftsfähigen Ansatz, um das Thema E-Food effizient zu gestalten und noch näher an die Bedürfnisse der Kunden zu rücken. Stolpersteine, wie fehlende Personalisierung, mehrere Tage Vorlaufzeit oder das Fehlen von regionalen Produkten im Sortiment werden durch den gewählten Ansatz umschifft. Zudem trägt das Konzept von myMigros auch zum Nachhaltigkeitsgedanken bei, da die Bestellungen nicht wie bei üblichen Zentrallageransätzen und Verteilhubs über weite Strecken durchs Land chauffiert werden, bevor sie letztendlich umgeladen und zum Kunden transportiert werden.

Dieser Beitrag erschien erstmals in gekürzter Form bei etailment – Das Digital Commerce Magazin von Der Handel

ÜBER DEN AUTOR

Prof. Dr. Matthias Schu ist der führende E-Food-Experte im DACH-Raum und Autor von «Das E-Food Buch». Nach über einem Jahrzehnt in leitenden Positionen in Beratung, Business Development und Projektmanagement im In- und Ausland, lehrt er seit September 2020 als Dozent für E-Commerce und Handel an der Hochschule Luzern. Zudem berät und unterstützt er mit seiner Boutiqueberatung «Dr. Matthias Schu | retail I ecommerce | internationalization strategy», Händler und Industrie bei Projekten, Prozessen und Strategie.

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